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Titel
Herrschaftssicherung im „Grenzland“. Nationalsozialistische Jugendmobilisierung im besetzten Slowenien


Autor(en)
Matzer, Lisbeth
Erschienen
Paderborn 2021: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Stromberger, Institut für Geschichte, Universität Graz

Diese Studie, auf Basis einer Dissertation erarbeitet, beschäftigt sich mit der NS-Jugendorganisation in einem Gebiet, das nicht gerade im Fokus großer Aufmerksamkeit steht: die Regionen Oberkrain und Mießtal (in etwa das heutige Gorenjska) bzw. die „Untersteiermark“ (Slovenska Štajerska), angegliederte Gebiete des Deutschen Reiches, deren vollständige Integration in den NS-Staat durch das Kriegsende verhindert wurde.1 Damit schließt die Autorin eine Forschungslücke.

Der Aufbau der Arbeit ist klar strukturiert, das Konzept durchgängig nachvollziehbar – und gut präsentiert in der Einleitung. Aufbauend auf grundlegenden Werken zur Geschichte der „Volkstumspolitik“ in besetzten Regionen bzw. der NS-Jugend, wie sie seit ungefähr zwanzig Jahren im Fokus der Forschung stehen2, verfolgt die Autorin die Bestätigung ihrer Thesen, dass die RJF (Reichsjugendführung) in dieser besonderen „Grenzlandarbeit“ ihre Position nicht nur dort gegenüber der Konkurrenz innerhalb des NS-Systems selbst sichern wollte, sondern auch (gleichsam rückwirkend) im Kernland des Reiches, und dass dabei rassistische Inklusions- und Exklusionspraktiken flexibel gehandhabt und adaptiert wurden, um die eigenen Ziele – einen herausragenden Beitrag zur Herrschaftssicherung zu leisten – zu erreichen. Die Diskrepanz zwischen Ideologie und durchführbarer Praxis: auch hier ein erkenntnisleitendes Thema. Es geht dabei um mehr als um die Geschichte der Jugendorganisationen oder um eine regionale Studie, es geht um einen Beitrag zur europäischen Geschichte des Nationalsozialismus, dessen koloniale Tendenzen gerade im Osten und Südosten des Reiches zum Tragen gekommen sind.3 In diesem Rahmen ergänzt die vorliegende Arbeit das Bild im Sinne der Borderland Studies oder der „Binnenkolonialismus“-Forschung.4

Eine „bricolage“ an methodischen Ansätzen mit transdisziplinärem Anspruch (aus dem Spektrum kulturwissenschaftlicher Forschung) ordnet die Fülle an Material, wobei die klare Struktur durch die Kategorisierung im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse gut verfolgbar ist. Die Ebenen der Institutionalisierung, der Praktiken (Mobilisierung, Rekrutierung, Erfassung, Schulung, „deutsches group-making“ durch Aktivitäten etc.), der Akteur:innen und der individuellen Perspektiven („Handlungsspielräume“) gestalten den roten Faden durch den umfassenden Text. Untersucht werden Aktenbeständen, Veröffentlichungen und Auto/biographien aus dem deutschen und dem slowenischen Sprachraum.

Fünf Kapitel definieren den Hauptteil – immer mit dem Fokus auf die Organisation der Jugendlichen – nach der als erstes Kapitel festgelegten Einleitung: (2.) die deutschnationale Vorgeschichte von der „Schutzarbeit“ bis zur Tätigkeit der „Illegalen“, die Entwicklung einer Grenzlandmentalität bis zur „Heimkehr ins Reich“, (3.) die Besetzung der Regionen und der Aufbau der NS-Jugend, (4.) Kooperationen mit bzw. Konkurrenz zu anderen Organisationen der Jugendmobilisierung und die personelle Vernetzung der Akteur:innen (außerschulische Organisationen und Schule bzw. Erziehungsinstitutionen), (5.) die Konstruktion und Vermittlung „deutscher Zugehörigkeit“: Erfassung der Jugendlichen und (grenzüberschreitende) Praktiken des „group-making“, (6.) „Motive, Handlungsspielräume und Verhaltensweisen“ der jugendlichen NS-Aktivist:innen bzw. der Verweigernden (Analyse von Motiven für oder gegen Aktivitäten innerhalb der Organisationen, Ansätze des Widerstandes, Sanktionen).

Dabei gelingt der Spagat zwischen den Darstellungen der Besonderheiten dieser Regionen und deren Einordnung in die Gesamtgeschichte nicht nur der besetzten Gebiete, sondern des (europäischen) NS-Systems weitgehend unter Einbeziehung relevanter Forschungsliteratur. Auch bewältigt wird der Spagat zwischen der Darstellung regionaler Spezifika (Oberkrain und Untersteiermark sind zwei unterschiedliche Regionen, allein etwa die Verbreitung deutscher Sprachkenntnisse – ein wichtiges Mittel der Mobilisierung, das vor allem in Gorenjska höchste Flexibilität von den NS-Akteur:innen verlangt – divergierte völlig) und der Einordnung in die Gesamterzählung der NS-Jugendmobilisierung in symbolisch aufgeladenen „Grenzländern“. Letzteres gestaltet sich umso schwieriger, als die Differenzen sich nicht nur durch die Großregionen definieren lassen, sondern auch einzelne Banne unterschiedliche Bedingungen vorweisen (bzw. auch die Quellendichte für die einzelnen Regionen differiert).

Die Stärken der gewählten Ansätze haben auch eine Schattenseite. Dieses Buch ist eigentlich mehr als ein Buch, es sind etwa 1,3 Bücher mit einem eigenen Kapitel in den Fußnoten und einigen Redundanzen, da die Fülle des herangezogenen Materials und der methodische Ansatz eine mehrfache Wiederholung der erkenntnisleitenden Thematiken nötig machen. Die Vorgeschichte (bis 1941) muss hinsichtlich der Jugendbewegungen eher schlaglichtartig auf Quellenmaterial zurückgreifen, weil wenig Forschungsliteratur vorhanden ist (Kap. 2). Zugleich ist es wichtig, auf die Darstellung der identitätsstiftenden Traditionslinien vor der Besetzung aufzubauen, da dies auch die NS-Aufbau-Arbeit (mit-)gestaltet. Caroline Mezger – der Vergleich mit dieser Studie zu anderen vormals jugoslawischen Regionen bietet sich an – hat dieses Problem gelöst, indem sie die Vorgeschichte zu einem eigenen Hauptteil gemacht hat mit einem dafür vergleichsweise reduzierteren Gesamtprogramm (es hat alles seine Vor- und Nachteile).5 Auch zur Frage der persönlichen Wahrnehmung der „Eindeutschung“, des Widerstandes und „Abweichens“ der Jugendlichen hätte man sich mehr gewünscht, hier stößt man aber wohl mangels Quellen an die Grenzen des Möglichen.

Das Buch erfüllt jedoch insgesamt, wie zuvor ausgeführt, die Anforderung eines innovativen Beitrags zu zentralen Forschungsfragen der NS-Geschichte bzw. der Geschichte politischer Jugendmobilisierung, es bietet einen umfassenden Quellen- und Literaturapparat und Ansätze zu weiteren Diskussionen und Vergleichen. Das theoretische Konzept ist stimmig. Die „Grenzland“-Thematik, Bildungsgeschichte, „NS-Binnenkolonisation“ und Praktiken rassistischer Gesellschaftsentwürfe, Jugendmobilisierung und Widerstandspraktiken im Alltag – diese Forschungsansätze profitieren von der vorliegenden Studie. Sehr gut verfolgbar sind die Diskrepanzen zwischen Ideologie und Praxis oder auch die Folgen einer rassistischen Ideologie für die Jugendlichen. Da nimmt man schon einige Redundanzen in Kauf, da liest man dann eben auch zweimal vom Interesse einer „deutschen“ Volksschullehrerin an einem jungen Mann, den sie aber entgegen der Inklusionsstrategien der RJF zur Herrschaftssicherung und trotz persönlicher Sympathie als nicht gleichwertig wahrnimmt, weil er für sie den „slowenischen Anderen“ repräsentiert.

Anmerkungen:
1 Zentrale Werke zur Besetzung der Regionen vgl. etwa: Tone Ferenc, Nacistična raznarodovalna politika v Sloveniji v letih 1941–1945 (Knjižnica nov in pos 35), Maribor 1968; Ivan Križnar, Kranjsko okrožje med nemško okupacijo in narodno osvobodilnim bojem 1941–1945, Kranj 2007; Heimo Halbrainer / Gerald Lamprecht / Ursula Mindler (Hrsg.), NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, Wien 2012.
2 Eine grundlegende Studie, die auch häufig zitiert wird, ist die von Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Teile (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte 13), München 2003; Klaus Peter Horn / Jörg-W. Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011; hinsichtlich der Praxis der Volkstumspolitik vgl. etwa: Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hrsg.), ‚Volksgemeinschaft‘ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort (Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ 4), Paderborn 2013.
3 Vgl. beispielsweise: Elizabeth Harvey, „Der Osten braucht dich!“ Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2010; Stephan Olaf Schüller, Für Glaube Führer, Volk, Vater- oder Mutterland? Die Kämpfe um die deutsche Jugend im rumänischen Banat (1918–1944) (Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas 9), Berlin 2009.
4 Vgl. beispielsweise: Sandrine Kott / Kiran Klaus Patel (Hrsg.), Nazism Across Borders, The Social Policies of the Third Reich and their Global Appeal (= Studies of the German Historical Institute London), Oxford 2018.
5 Vgl. Caroline Mezger, Forging Germans. Youth, Nation, and the National Socialist Mobilization of Ethnic Germans in Yugoslavia, 1918–1944, Oxford 2020. Siehe dazu auch die Rezension von Carl Bethke, in: H-Soz-u-Kult, 13.05.2021, https://www.hsozkult.de/review/id/reb-29678 (05.05.2022).

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